"Fünf Platten" ist der erste und bisher einzige autobiografische Text in meinem Repertoire. Er beschäftigt sich mit dem Einfluss von Musik auf mein Leben. Ich habe dazu eine Multimediashow erarbeitet, bei der ich die Plattencover sowie einige Fotos zeige und jeweils einen Song aus den fünf Alben vorstelle. Es geht aber auch nur mit Worten.

 

Hier ein Auszug:

Leseprobe aus "Fünf Platten, die mein Leben verändert haben"

 

Wire: 154

 

Als ich dreizehn war trennten sich meine Eltern, und ich zog mit meiner Mutter in die Schweiz. Nicht nur einfach so in die Schweiz, sondern dahin, wo die Schweiz sozusagen ihren Gipfel erreicht, in ein winziges, abgeschiedenes Alpental mit zweihundert Einwohnern, in dem Wildbäche rauschten, Kuhglocken bimmelten und um drei Uhr nachmittags die Sonne hinter den Felswänden verschwand.

 

Von Integration und Willkommenskultur waren die Schweizer so weit entfernt wie die Alpen vom Great Barrier Reef, und das galt insbesondere für dreizehnjährige Migranten, die silberne Satinhosen statt Skianzügen trugen und über Schizophrenie laberten. Das erste halbe Jahr bemühte ich mich, den Lautäußerungen meiner neuen Mitschüler und Lehrer irgendeine erkennbare Semantik zu entlocken, und die restliche Zeit – fünf Jahre insgesamt – ertrug ich ihre unverhohlene Ablehnung.

 

Anfangs gab ich mir noch Mühe, zum Beispiel lud ich die ganze Klasse zum Würstchengrillen ein, aber nicht ein Einziger erschien zum verabredeten Termin. Später nahm ich daher Zuflucht zu offener Rebellion, schockte mit verrückten Klamotten, sprach kategorisch nie auch nur ein einziges Wort Schweizerdeutsch, klaute Bücher aus der Schulbibliothek und schwänzte ein halbes Jahr lang den Sportunterricht.

 

Es war eine finstere Zeit, ähnlich wie das Mittelalter. Und dies auch in musikalischer Hinsicht. Die Schweizer Radiosender der späten Siebziger spielten nur Schlager und Unterhaltungsmusik, und das Internet war zu meinem Verdruss noch nicht erfunden. Die einzige Möglichkeit, meinen Hunger nach guter Musik zu stillen, bestand darin, dass ich ein- oder zweimal im Monat taschengeldintensive Zugreisen ins ferne Luzern unternahm, um mich dort mit neuen Schallplatten einzudecken, und die kaufte ich praktisch ausschließlich aufgrund ihrer Cover – in der Hoffnung, dass sie hielten, was sie äußerlich versprachen, so wie Sebastian es getan hatte.

 

Es waren naturgemäß viele Rohrkrepierer unter meiner Ausbeute, aber auch jener eine, kostbare Diamant, auf den jeder Schürfer hofft. Beim Anblick des Artwork schlug mein Herz bereits höher: schlichte grafische Figuren auf weißem Grund, eine Mischung aus Wassily Kandinsky und Kasimir Malewitsch, die ich beide sehr verehrte. Kein Text, kein Titel, keine Fotos. Ich hielt das Album 154 von Wire in der Hand, einer britischen Post-Punk-Band, deren Namen ich nie zuvor gehört hatte.

 

Mag sein, dass sich mir die Schönheit dieser Musik nicht gleich beim ersten Hören offenbarte, denn ich gebe zu, sie ist ein bisschen anstrengend. Wire hört man nicht am Strand oder beim Autofahren. Aber da, wo ich sie hörte, fügten sie sich perfekt ein: in der Gummizelle.

 

So nannte ich jenes fensterlose kleine Nebengelass meines Zimmers mit den schrägen Wänden, die ich komplett schwarz gestrichen hatte. Darin standen mein Plattenspieler und die Boxen. Und nichts lenkte mich hier von der düsteren, hypnotischen Faszination jenes Wire-Albums ab, das von allen Veröffentlichungen der bis heute aktiven Band das beste bleiben sollte. A touching display ist mein Lieblingssong. Er transportiert all die Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und Trauer, die ich, ein gegen seinen Willen in die Einöde verschleppter Teenager, zu jener Zeit empfand. Es ist Musik, die aufbegehrt und an ihre Grenzen stößt, die gequält aufschreit und immer wieder zurückgeschleudert wird, und sie schien aus meinem eigenen Inneren zu kommen.

 

Wire und insbesondere 154 haben mir geholfen, die Jahre in der Schweiz zu überleben. Sie haben mich inspiriert, mir Ausdrucksmöglichkeiten zu suchen, vor dem Hintergrund dieser Musik habe ich meine besten Bilder gemalt und zahllose Texte geschrieben, sogar ein Drehbuch entstand unter ihrem Einfluss. Wire kommen aus London, und ihr musikalisches Schaffen ist unüberhörbar urban, was mich in meiner Gewissheit stärkte, ein Stadtkind zu sein. Nur in städtischen Umgebungen konnte solche Musik entstehen. Da hatten keine Kuhglocken oder Wildbäche Pate gestanden, sondern das kontinuierliche Rauschen des Autoverkehrs und das Quietschen von Straßenbahnen. Und ich wusste, dass ich dorthin zurückmusste.